DIE GIFTIGSTEN SÄTZE DER WELT

Folge 11: Appell an die Vernunft - Achtung: Ich platze!

Nur mal rein theoretisch: Ihr Auto war gerade eine Woche in der Werkstatt und alle Beulen der letzten fünf Jahre wurden beseitigt. Der Luxusschlitten hat nicht den geringsten Kratzer mehr und glänzt frisch poliert in der Morgensonne. Profiarbeit. Weil er in der Werkstatt war, hat Ihre Frau sich im gemeinsamen Carport ein bisschen ausgebreitet und etwas mehr in der Mitte geparkt, so dass Sie Ihr Auto davor abstellen mussten, weil die Lücke zu schmal war. Und als es jetzt schnell gehen muss, knapp 3 Stunden nachdem das Auto aus der Werkstatt kam, setzt Ihre Frau unter Termindruck - das Handy am Ohr - mit Schwung zurück, schlägt die Lenkung ein und donnert derart in die Seite Ihres Lieblingsfortbewegungsmittels, dass eine Woche Werkstatt wahrscheinlich nicht reichen wird, um den Status quo wieder herzustellen.

Das ist natürlich eine rein fiktive Geschichte und hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Aber gesetzt den Fall, was würden Sie jetzt tun? Ich mache mal einen Vorschlag: Ich würde schreien, ich würde Sätze sagen, die ich im Moment überhaupt nicht bereue (ein paar Tage später dagegen schon), ich würde laut werden, ohne ein gesprochenes Wort von mir zu geben, nur damit der Luftdruck mir nicht gegen die Schädeldecke donnert. Und haben Sie eine Ahnung, was ich dann zu hören bekäme. Wieder rein theoretisch natürlich: Nun beruhige Dich doch! So schlimm ist es jetzt auch wieder nicht.

Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist, und ob das bei Ihnen wirken würde, meine Vorstellungskraft sagt mir ziemlich konkret, dass es bei mir nicht wirken würde, sondern unter Umständen meinen momentanen Zustand noch ein bisschen verschlimmern würde. Beruhige Dich doch. ICH WILL MICH NICHT BERUHIGEN.

Ich bin in der Refraktärphase, ich bin von meinen Gefühlen völlig überflutet, es herrscht eine emotionale Überschwemmung, und da hilft die Empfehlung so gar nicht, ich solle mich beruhigen. Auch So schlimm ist das doch gar nicht oder in der verschärften Version Stell dich nicht so an oder Hab dich nicht so oder am oberen Ende der Skala Es ist schließlich nur ein Auto. All diese Sätze sind toxisch, weil sie das Problem nicht entschärfen, sondern vergrößern.

Und das hat nichts mit dem Geschlecht zu tun. Wenn Sie ihren Lieblingspullover aus Angora zusammen mit Ihrer schwarzen Jeans gewaschen haben oder das Handy ohne Backup bei der Übergabe in den Topf mit Gemüsebrühe fällt. Die Reaktion wäre vergleichbar und der Versuch durch Zuruf eines deeskalierenden Satzes zu beruhigen, wäre fruchtlos.

Nun gibt es nichts daran zu rütteln, Sie haben alles Recht sauer zu sein, und wir haben doch gelernt, dass das Runterschlucken von Ärger zu Magengeschwüren führt. Also raus damit.

Wissenschaftler sagen heute was anderes. Möglicherweise führt das Zusehen bei einem Fußballspiel nicht dazu, dass ich mich abreagiere, sondern möglicherweise macht es mich erst so richtig wütend. Und wenn Sie Ihrer Wut freien Lauf lassen, führt das nicht dazu, dass die Wut möglichst schnell verschwindet, sondern Wut macht fast immer noch wütender. Und sollten Sie Kristallvasen besitzen und nicht gesicherte Spaten und Spitzhacken in der Nähe stehen, würde ich über diese Taktik mal nachdenken.

Meist denken wir darüber aber nicht nach. Wir sind wütend und der Reiz war so stark, dass unsere Denkfähigkeit stark eingeschränkt ist. Was wollen wir denn jetzt hören? Was sollte der andere denn machen?

Wenn ich jetzt schreibe „empathisch sein“, dann stöhnen Sie wahrscheinlich, weil sie auch nicht schlauer sind. Wie wäre es damit, gar nicht zu sagen, aber dazubleiben, zuzuhören, sich das anzuhören, den Prellbock abzugeben, damit der andere toben kann und dieses sehr unangenehme Gefühl schnell wieder verschwindet.

Natürlich geht auch ein Entschuldige oder Tut mir sehr leid! aber es darf kein Vorwand sein, die Situation zu beenden oder den Ort der Feindseligkeiten möglichst schnell zu verlassen, damit die Beschimpfung aufhört. Nein, es geht vielmehr darum, dem anderen zu vermitteln, dass man den Fehler einsieht und dass es einem ehrlich leidtut. (Natürlich nur, wenn es einem auch leidtut.) Mit einem reuigen Gegenüber verschwindet meine Wut deutlich schneller.

Wenn das häufiger auftritt, wenn Sie empathisch sind, wenn Sie häufiger so miteinander umgehen und keine Angst vor den Konsequenzen haben, wenn Sie mal einen ziemlich großen Fehler gemacht haben, dann wird die Welt tatsächlich spürbar friedlicher.