DIE GIFTIGSTEN SÄTZE DER WELT

Folge 4: Wildwest in der S-Bahn - fast wie im Kino...

Wir fuhren nach einem Kinobesuch in der Düsseldorfer Altstadt mit der S-Bahn nach Hause. Die S-Bahn war fast leer. Da kam ein Betrunkener herein und blickte sich um. Nach einigen Versuchen, andere Menschen in ein Gespräch zu verwickeln, suchte er sich denjenigen heraus, der am elegantesten gekleidet war, und damit wahrscheinlich am höflichsten sein würde. Das war in diesem Falle ich.

Er roch unangenehm und meine Körpersprache gab ihm deutlich zu verstehen, dass er sich verziehen sollte. Tat er aber nicht. Er kam näher, sehr viel näher. Ich wich ihm aus, und er hinterher. Ich sagte ihm auf Deutsch und Englisch, dass er mich in Ruhe lassen solle. Als er anfing, mich zu berühren, wurde ich wütend und schrie ihn an, dass er mich nicht anfassen solle. Lassen Sie mich in Ruhe, sonst passiert was! Und dann war der Bann gebrochen. Er wusste jetzt, womit er mich kriegen konnte und fingerte ohne Hemmungen an mir herum. Ich saß in der Falle. Ich lief noch dreimal vor ihm weg, bis wir endlich aussteigen konnten. Noch viele Wochen danach tauchte er im Schlaf auf und ich stellte mir vor, wie ich ihn verprügelte, aus der S-Bahn schmiss und was sonst noch alles. So ohnmächtig hatte ich mich lange nicht gefühlt.
Wenn wir ein Ultimatum stellen, dann muss es auch eine Möglichkeit geben, das Ultimatum durchzusetzen. Da meistens die Konsequenzen so sind, dass sie beiden Seiten schaden, ist es besser, keine Ultimaten zu setzen. Denn ein Ultimatum ist ja nicht nur ein Zeichen, dass der andere weiß: Bis hierhin und nicht weiter! Sondern er bekommt gleichzeitig das Zeichen: Wenn ich diese Grenze überschreite, dann tue ich dem anderen wirklich weh. Ich bin überzeugt, dass das die Strategie des Betrunkenen war (wenn man bei ihm von Strategie sprechen konnte): Besser ich werde negativ wahrgenommen als gar nicht. Auch einen Schlag (den ich mir nie verziehen hätte) hätte er wahrscheinlich lieber hingenommen, als die Tatsache, völlig ignoriert zu werden. 
Auch die vielen  Varianten wie Wenn du das jetzt noch ein einziges Mal sagst oder Das halte ich nicht aus zeigen nur meine Schmerzgrenze, und das ist eine willkommene Einladung, diese Grenze zu überschreiten. Giftiger kann ein Satz kaum sein. Wir glauben, dass der andere die Grenze natürlich sofort akzeptieren wird, weil er sie nun kennt. Aber das Gegenteil ist auch möglich. Auch ein Satz wie Ich dulde nicht, dass…, der noch dazu so was Schulmeisterliches hat, ist die Einladung mal auszuprobieren, was passiert, wenn Sie es erdulden müssen. Ein Satz wie Zwei Prozent und keinen Cent weniger oder der Deal platzt, bedeutet, dass sie in Kauf nehmen, dass gar kein Handel zustande kommt. Sonst werden Sie in Zukunft nicht mehr ernst genommen.
Wenn Sie etwas in der Hand haben, ist eine Bedingung oder das Ziehen einer Grenze sinnvoll. Wenn Sie weiter sexistische Witze machen wollen, dann gehe ich. Jetzt gehen Sie, wenn es weitergeht. Oder Sie brechen das Gespräch mit einem Journalisten ab, weil der nicht aufhört zu einem Thema zu fragen, über das Sie nicht sprechen wollen.
Ihren Liebling darüber zu informieren, dass Sie etwas nicht ertragen, nicht aushalten, nicht hinnehmen werden, ist dagegen wenig sinnvoll. Denn wenn Ihr Liebling das nächste Mal mit dem Rücken zur Wand steht und ihm/ihr keine Argumente mehr einfallen, könnte es sein, dass er/sie sich daran erinnert, womit man Sie aus der Fassung bringen könnte. Selbst wenn Sie sich von Liebling trennen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der nächste Liebling Ihre schwache Stelle findet.
Wenn wir etwas nicht ertragen, dann haben wir selbst das Problem und nicht der andere. Sie können den anderen bitten, Sie können äußern, dass Sie etwas stört. Aber etwas zur Bedingung zu machen, damit es Ihnen gut geht, ist nicht sinnvoll. Nehmen wir an, Ihr Partner liebt Sie echt und aufrichtig. Möchten Sie wirklich, dass er oder sie ständig in der Angst lebt, die von Ihnen gesetzte Grenze könnte unabsichtlich oder im Affekt überschritten werden?
Sagen Sie deutlich, wenn Ihnen etwas nicht gefällt, wenn es sie stört oder wenn es Ihnen weh tut. Aber verbinden Sie es nicht mit einer Konsequenz, wenn Sie nicht bereit sind, die Konsequenz auch zu ziehen. Denn mit dem Revolver zu spielen und keine Kugel zu haben, kann bei Schießereien eine tödliche Taktik sein. Und die Welt machen Sie dadurch auch nicht besser.